Der Tagesspiegel

09.09.2013

Nächste Ausfahrt: Biergarten

"Habt ihr Durst?", fragt der Mann mit der roten Baseballkappe. "Wollt ihr mal probieren?" Die Antwort kommt einstimmig.

Im Grunde eine rhetorische Frage, denn die Gruppe ist schon mehr als zwei Stunden auf ihren Rädern unterwegs und jetzt schart sie sich hier in diesem stickigen, gekachelten Labor um die glänzende Zapfanlage wie eine herde ausgedörrter Rinder um die Tränke.

Der Mann mit der kappe heißt Kurt Marshal," Kurt wie Schuhmacher, Marshal wie der Plan"; sagt er, mit nur noch minimalem amerikanischen Einschlag nach 20 Jahren Hamburg und Berlin. Schuhmacher und Plan, schöne Herleitung,

weil es so gut passt: ein US-Entwicklungshelfer in Sachen deutsches Arbeitergetränk.

So weit ist es gekommen mit dem Wedding.

Hier, wo vor gut 100 Jahren noch acht Brauereien produzierten, muss nun ein Mann aus dem Land des schalen Budweiser kommen, um in den alten.

zitty Magazin

20. Mai 2010

Wedding Safari

Ein betonfarbener Samstagnachmittag, schwarzgraue Wolken drücken auf den Wedding. Die Idylle aber, sagt Jürgen Breiter, 41, vor dem Finanzamt, sei nicht weit. Dann schwingt er sich auf sein orangenes Fahrrad. Breiter ist studierter Architekt, arbeitet aber als "urban curator", als Stadtkurator. Einer, der Straßen, Häuser und Höfe wie eine Ausstellung betrachtet. Einer der darin Geschichte sieht und anderen davon erzählt.

Heute führt er ein Grüppchen aus Prenzlauer Berg in den benachbarten Stadtteil, "Nächste Ausfahrt Wedding" heißt das Projekt, mit dem die Organisatoren die Viertel näher zusammenbringen wollen. Breiter trägt ein braunes Jackett und eine tarngrüne Trekkinghose, Intellektuellenoberteil zum Erkunderkleidungsstück. Die Bezirkstouristen wollen die Kleingärten im Wedding kennen lernen. Es ist nicht gerade Kleingartenwetter. Der Himmel signalisiert Regengefahr. Aber Breiter ist ein Gute-Laune-Typ.

Am Zaun der Kolonie Nordkap an der Osloer Straße hebt er seine Stimme über den Autolärm. Er erzählt, wie die ersten Zugezogenen vom Land Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Parzellen einrichteten. Und das jetzt die Schutzfristen vieler Anlagen auslaufen, ihre Zukunft ungewiss ist. Mehr als 70.000 Kleingärtner in Berlin, sagt Breiter, seien aber eine Lobby. Nicht zu vergessen die Gartenzwerge. Kleiner Scherz, die absolute Ausnahme. Breiter geht so nah ran, bis es nett wird. Also rauf auf Margot Vissers Rasen, wo Steineulen stehen, und wo Murkel, das "bisschen Hund", vor dem am Laubeneingang gewarnt wird, an den Beinen aus Prenzlauer Berg hochhüpft. Visser, Rentnerin und Quartiersrätin, referiert aus der Familiengeschichte: wie der Mauerbau ihre Mutter damals von der Parzelle im Osten trennte. Wie die Leute aus dem nahen Krankenhaus kommen, um am Flieder zu riechen. Sie erzählt, Breiter erzählt. "Mensch, da müsste man doch die Kranken aus der Klinik zur Gartenarbeit rüberholen"... bis eine ganze Weile vergangen ist. Dabei ist das doch nur die erste Station.

Es geht weiter durchs englische Viertel. Breiter ruft immer wieder das Wort "Potential". Aus kleinsten Flächen Nutzgrün machen! "Damit die Kinder wieder lernen, was ´ne Möhre ist." Außerdem lerne man in so einem Kleingarten Konfliktlösung. Migranten und Deutsche etwa. Um sich für größere Diskussionen zu rüsten, für gesellschaftliche. Bei der Familie in der Kolonie Togo entstehen für einen kleinen Augenblick kulturelle Spannungen als der Vater anfängt, Türkenwitze zu erzählen. Er biegt es wieder halbwegs gerade, indem er zügig Ostfriesengags nachschiebt. "Du und deine Ostfriesen", murrt die Frau und schaut nach den zwei Wochen alten Kaninchen. Der Hausherr reicht frisch gezogene Radieschen. Na klar, sagt Breiter später, Deutschlandflaggen gehören auch oft dazu.

Mittlerweile hat seine Erkunderlaune die Wolken vertrieben. "Hallo" ruft er jedem zu. Betonung auf dem O. Einige Sonnengegerbte Gesichtsfurchen sortieren sich plötzlich neu, viel freundlicher. "Hallo". Mitten in der Kolonie Rehberge zückt Breiter noch einmal ein Buch für einige historische Abschlusserläuterungen. Weiße Biergartenstühle, viel Abendsonne, kein Autorauschen. Ankunft in der Idylle. Endstation. Es gebe noch so viel, sagt Breiter. "Es ist uferlos."

(Autor: Johannes Gernet)

Katholische SonntagsZeitung

vom 30./31. Mai 2009

"Was den Leuten fehlt -
Radtour auf kirchlichen Spuren durch den Wedding"

Nächstes Ziel ist der am frühen Samstagnachmittag belebte Leopoldplatz. Zwei Kirchen stehen direkt auf dem Platz und eine Freikirche in einem benachbarten Hof. An einem Tapeziertisch zur Müllerstraße werben zwei Weißhaarige mit Gedrucktem für Ihre Glaubensgemeinschaft.

Trommelnd, tanzend und singend machen Mitglieder einer afrikanischen Gemeinde an der Ecke Nazarethkirchstraße auf sich aufmerksam. "Materielles gibt es in Berlin genug, was fehlt ist die Liebe", erläutert Pfarrer Kingsley Arthur seine Motivation zur Straßenmission. Sie haben Anfang der 1990er Jahre mit einem Hauskreis begonnen.

Weiter ziehen die Tourteilnehmer beiderlei Geschlechts zur Yunus-Emre-Moschee. Die Schuhe müssen sie ausziehen am Eingang des islamischen Gotteshauses. Burhan Kaya geleitet sie über einen weichen Teppich im Moscheesaal zum Besprechungszimmer.

Über eine Stunde erklärt der Vorsitzende des Moscheevereins in der Reinickendorfer Straße den Islam, beantwortet alle Fragen vom Ruf des Muezzins bis zur Distanzierung von Gewalt. Dabei übersetzt er Suren des Koran, bespricht die 5 Säulen des Islam und erläutert die täglichen 5 Gebete des Muslims.

Ein verwunschener Ort "das Krematorium Wedding" lautet der letzte Programmpunkt in der nahen Gerichtsstraße - Urnen stehen in zahlreichen Wandnischen, einige geschmückt, mit Trauerbindern und Blumen dekoriert, andere wie seit Jahrzehnten nicht mehr besucht.

Henson Stehling